DIAGNOSE KUNST
Vernissage
Einleitungsrede von Frau Kertz-Welzel
Kennen Sie das? In Ihrem Bekanntenkreis hat sich ein neues Pärchen zusammengefunden, das so gar nicht zusammenzupassen scheint: Sie ist sachlich, pragmatisch, erfolgreich – er ist verträumt, weltfremd, und findet sich im Alltag nur mühsam zurecht. Man fragt sich unwillkürlich: Was hat die beiden zusammengeführt? Was finden sie aneinander?
Während die Irrationalität der Liebe auch angesichts von Dating-Apps letztlich unergründlich bleibt, gibt es für unerwartete Partnerschaften wie die Kooperation zwischen dem Institut für Allgemeinmedizin und dem Department Kunstwissenschaften doch viele Gründe: Beide haben beispielsweise existentiell mit dem Menschen zu tun, allerdings in unterschiedlicher Form. Während Kunst Dimensionen jenseits des Alltäglichen aufzeigt und uns intensive Selbst- und Welterfahrungen ermöglicht, die uns zeigen, dass Leben mehr ist als das bloße Erfüllen von beruflichen oder privaten Pflichten ist, hat es auch die Allgemeinmedizin mit dem Menschen in seinen unterschiedlichen Facetten zu tun: Es geht um Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod, Grenzerfahrungen und intensive Begegnungen zwischen Ärzt*innen und Patient*innen. Auch wenn die naheliegendste Beziehung zwischen Kunst und Medizin vielleicht die therapeutische wäre, ist dies doch nicht das, worum es in diesem Projekt geht: Es geht um den autonomen künstlerischen Ausdruck, über das Alltägliche und seine Bedingungen hinausgehend, vermittelt im Medium des Siebdrucks, das in besonderer Weise eine Offenheit für Imagination ermöglicht.
In diesem interdisziplinären Projekt, dessen Ergebnisse wir hier heute sehen, haben sich die Teilnehmenden in der Kooperation auf ein Experiment eingelassen, das Mut fordert: Einem unbekannten Fachbereich und seinem Blick auf Welt und Menschen zu begegnen, vieles vielleicht nicht oder erst langsam zu verstehen, Verbindungen zwischen dem eigenen Ausdrucksbedürfnis und den Anliegen der Gegenseite zu finden - und gleichzeitig diesen Prozess des Aushandelns, der verwandelnden Begegnung in einem Kunstwerk, einem Siebdruck zum Ausdruck zu bringen. Jede Teilnehmende wird sicherlich ihre eigene Geschichte dieser Begegnung, aller Irritationen, scheinbaren Ausweglosigkeiten, unerwarteten Verwandlungen und Erfolge zu erzählen haben – und ich bin gespannt, nachher im Gespräch vielleicht auch mehr über diesen Prozess zu erfahren.
Ich möchte deshalb allen an diesem Projekt Beteiligten im Namen des Departments Kunstwissenschaften und auch der Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften für ihren Mut und ihre visionären Ideen danken, dieses Projekt zu initiieren und zu ermöglichen: Prof. Gensichen, Frau Nauerz, Frau Bischhoff, Frau Blanché und Frau Winkler – und auch allen Studierenden, die sich auf dieses Projekt eingelassen haben. Wir brauchen mehr solcher Kooperationen von Partnern, deren Verbindung zunächst ungewöhnlich scheint, die aber inspiriert und aus deren spannungsreicher Begegnung für beide Seiten Neues entsteht.
Ich wünsche uns allen, dass wir in der Begegnung mit den verschiedenen Siebdrucken etwas von der Dynamik der Zusammenarbeit von Kunst und Medizin erfahren; dass wir herausgefordert werden, vielleicht zuerst manches auch nicht verstehen, um uns dann auf eine tiefere Begegnung einzulassen, die uns etwas über uns selbst und den Menschen an sich sagt, etwas, was uns vorher noch nicht bewusst war – und damit die Aufgabe von Kunst als Irritation und lebensbejahender Sinnstiftung erfüllt.